«Wenn sich Menschen in einem bewertungsfreien, sicheren Rahmen auf ihr inneres Erleben und ihr Herz konzentrieren, können sie auf diesem Weg neue Erkenntnisse gewinnen und gelassener werden. Sie stärken auf diesem Weg ihre innere Sicherheit und können so selbst bestimmte Entscheidungen treffen und mit herausfordernden Situationen umgehen.», mit dieser These bin ich vor mehr als zwei Jahren in meine Arbeit als Mentorin gestartet. Ich hatte mir vorgenommen, ein Beratungsangebot an der Schnittstelle zu wissenschaftlicher, faktenbasierter und spiritueller Arbeit zu kreieren. In der täglichen Arbeit mit Menschen hat sich diese These immer wieder bewahrheitet. Aber mir fehlte lange die Faktenlage, um zu erklären, warum. Bis ich die Polyvagal-Theorie nachhaltig in meine systemisch-schamanische Arbeit eingebaut habe und plötzlich alles Sinn ergibt.
Als sensitiver Mensch bin ich es gewohnt, Dinge zu spüren. Und ich bin es auch gewohnt, dass ich die Dinge, die ich irgendwo tief in der Magengrube ahne, erklären muss. Die Suche nach einer Erklärung ist so irgendwie zu meiner Lebensaufgabe geworden. Ich bin ein Mensch, der intuitiv eine These «erspürt» und diese mit einer unablässigen Hartnäckigkeit nachprüft. Diese Forschungsarbeit hat mich gelehrt, mein Herz und meinen Kopf zu verbinden. Dieses Vorgehen hat mich auf all meinen Wegen begleitet: Ob als Geschäftsführerin oder Kommunikationsberaterin: Ich bin meinen Thesen gefolgt und habe versucht, sie zu evaluieren und wenn nötig auch zu revidieren.
Auf meiner Suche danach, das Menschsein auch nur annähernd zu verstehen, bin ich viel gereist, habe verschiedenste spirituelle Techniken kennen gelernt und festgestellt, wie oft es darum ging, einen Zugang zu seinem Herzen zu finden. Ich spürte und sah: Es macht die Menschen gelassener, wenn sie sich auf ihr Inneres, auf ihr Herz, konzentrieren. Aber warum ist das so?
Durch meinen systemischen Mentor, der mich schon seit bald 10 Jahren begleitet, begann ich als Führungsperson und Mensch zu verstehen, wie wichtig es ist, uns und unser Umfeld als System zu betrachten, dessen einzelne Zahnräder alle ineinander greifen. Das Potenzial der systemischen Betrachtung ist für mich riesig, denn sie lehrt uns, Dynamiken aufzudecken und unsere Themen auf eine neue Art und Weise zu betrachten.
Im Schamanismus lernte ich schliesslich den Zugang zu starken inneren Bildern kennen und spürte, dass sie unser ganzes Sein beeinflussen. Und ich lernte, einen sicheren Raum für Menschen zu schaffen und ihn zu halten.
Als ich den heart space gründete, startete ich mit einer klaren These die Arbeit als Mentorin und Coach:
«Wenn sich Menschen in einem bewertungsfreien, sicheren Rahmen auf ihr inneres Erleben und ihr Herz konzentrieren, können sie auf diesem Weg neue Erkenntnisse gewinnen und gelassener werden. Sie stärken auf diesem Weg ihre innere Sicherheit und können so selbst bestimmte Entscheidungen treffen und mit herausfordernden Situationen umgehen.»
In meiner Arbeit mit Menschen konnte ich immer und immer wieder sehen, dass die Aspekte meiner These stimmen. Aber noch fehlte mir die Datenlage, um sie nachhaltig zu untermauern.
Mein systemischer Mentor hatte schon jahrelang polyvagale Ansätze in unsere Arbeit fliessen lassen. Ich wandte sie an und wusste, dass sie funktionieren. Aber erst vor einiger Zeit, als ich noch eine Weiterbildung in dieser Thematik absolvierte, fielen mir tausend Schuppen von den Augen und plötzlich ergibt mein Ansatz auch auf wissenschaftlicher Ebene einen Sinn.
Der Neurowissenschaftler Stephen W. Porges hat mit der Polyvagal-Theorie eine neue Sicht auf unser autonomes Nervensystem begründet. Diese Sicht beinhaltet, dass wir das autonome Nervensystem als unseren Bodyguard verstehen, der konstant und unbewusst unsere Umgebung ständig nach Gefahren absucht und entsprechende Folgen veranlasst. Schätzt unser autonomes Nervensystem die Lage als sicher ein, sind wir gelassen und fühlen uns verbunden. Löst unser Bodyguard eine Gefahrenmeldung aus, werden wir gestresst, aktiviert bis hin zu wütend. Erkennt unser Bodyguard (vermeintlich) eine Lebensgefahr, kann er dafür sorgen, dass wir mit einem Gefühl der Lähmung und einer massiven Drosselung vieler Aktivitäten der Organe in eine Energiesparmodus kommen, der unser Überleben sichern soll. Dieser Prozess gleicht einem temporären Shutdown. Unser Bodyguard beginnt schon im Mutterbauch zu lernen, was sicher und was gefährlich ist und beurteilt die Lage aufgrund seiner Erfahrung.
Bahnbrechend an dieser Theorie ist unter anderem, dass wir erkennen dürfen, dass unser System uns konstant schützen möchte und dafür komplett automatisierte Reaktionen auszulösen vermag, die unser Denken zum grössten Teil nicht einmal registriert. Die Polyvagal-Spezialistin Deb Dana schreibt dazu:
«Jede Reaktion ist eine Handlung im Dienste des Überlebens. Ganz gleich wie unpassend eine Handlung von aussen wirken mag, aus autonomer Perspektive ist sie immer eine adaptive überlebenssichernde Reaktion.»
Das unterstreicht, warum es so wichtig ist, mit Menschen in einem bewertungsfreien Rahmen zu arbeiten: Ihre Reaktionen sind nicht gut oder böse, richtig oder falsch; sie sichern aus der Sicht des autonomen Nervensystems das Überleben. Und schliesslich zeigt uns diese Sicht auf das Handeln der Menschen auch auf: Selbst wenn eine Gefahr nicht real ist, wenn sie aus der Sicht des Nervensystems existiert, ist diese Wahrnehmung stärker, als die Wirklichkeit. Deshalb können wir uns zum Beispiel in eine Wut auf einen Menschen steigern, von dem wir etwas sehr Schlechtes erwarten, das dieser Mensch aber gar nicht im Sinn hatte. Oder wir werden von einem Geräusch aktiviert, dass in einer früheren Situation eine Gefahr signalisierte, aber heutzutage überhaupt nicht mehr relevant wäre.
Eines der Hauptziele der Polyvagal-Theorie ist es nun, die Reaktionsweisen von Menschen zu beobachten und das autonome Nervensystem wieder in den Modus der Sicherheit und Verbundenheit zu bringen. Denn in diesem Zustand sind wir gelassen, können Beziehungen zu Menschen pflegen und schwierige Herausforderungen meistern. Unter anderem können wir mit dem Fokus auf unser Herz oder unseren Puls und mit geführter Imagination arbeiten, um unserem System beizubringen, dass es sicher ist. Unser Bodyguard ist nämlich ziemlich flexibel: Er kann einmal erlernte Reaktionsmuster durchaus überdenken und eine Lage neu beurteilen.
Die Polyvagal-Theorie ermöglich es also, dass wir unser tägliches Erleben aus der Sicht von drei Zuständen betrachten:
Sicher, mobilisiert, immobilisiert.
Ausserdem dürfen wir lernen, dass unser Gehirn uns zu diesen Zuständen manchmal eine Geschichte erzählt, die nicht unbedingt der Wahrheit entspricht. Auch an diesen Geschichten können wir arbeiten.
Mit der Kombination aus systemischer Betrachtung und schamanischer Arbeit, die nicht nur das Reisen in inneren Bildern voraussetzt sondern auch das Schaffen eines sicheren Rahmens, habe ich also für mich eine Vorgehensweise gefunden, die zusammen mit dem polyvagalen Wissen ein ganzheitliches, stimmiges Bild ergibt.
Übrigens, ist mein Vorgehen aus intuitiver These und der Untermauerung durch Fakten auch eine Suche nach Sicherheit. Denn mein Gefühl, von dem mein Nervensystem gelernt hat, das es nicht unbedingt sicher ist, wird durch Daten bestätigt, was mich in einer rationalen Welt zurück in die Sicherheit fühlt.
Und hier kommt der letzte und für mich einer der wichtigsten Punkte der Polyvagal-Theorie: Die Forschung von Stephen W. Porges hat gezeigt, dass sich über die so genannte Co-Regulation die Systeme von Menschen beeinflussen. Bin ich also reguliert und in einem sicheren und verbundenen Zustand, erleichtere ich damit meinen Klient:innen den Weg dorthin. Und wenn sie dort sind, unterstützen sie wiederum ihre Mitmenschen dabei.