Sind wir alle nur noch Ego-istisch? Müssten wir alle einen Ego Death sterben und unser Ego droppen? Das, was in vielen Konzepten als Ego verstanden wird, ist in einer Nervensystem-informierten Arbeit ein Ausdruck davon, dass unser autonomes Nervensystem sich nicht sicher fühlt.
In diesem Beitrag:
- Ego = «Ich fühle mich nicht sicher»
- Wann Ego aktiv wird
- Bedrohung führt zu Egoismus
- Reguliert leben wir unser höheres Selbst
- Ego braucht mehr Mitgefühl vom höheren Selbst
Ego. Ein grosses, oft negativ verstandenes Wort. Das Ego wird oft als etwas Konstruiertes verstanden. Eine konstruierte Ansicht von sich selbst inklusive Überzeugungen, Glaubenssätzen und Dingen, die uns kränken können. Ich spreche in meiner neuen «Knautsch Club»-Podcast-Folge (hier zu hören) über das Ego und das wahre, höhere Selbst.
Ego = «ich fühle mich nicht sicher»
Im Grunde genommen, bedeutet Ego ja nicht mehr, als «Ich». In einer polyvagal-informierten Perspektive, dürfen wir das Ego als Ausdruck einer Schutzmassnahme des autonomen Nervensystems verstehen.
Ist unser «Ego» bedroht…
…erheben wir uns über andere
…fühlen wir uns ungerecht behandelt
…zeigen wir mit dem Finger auf andere
…wollen wir die Verantwortung abgeben
…fühlt es sich bedrohlich an, bei uns selbst nachzusehen
…greifen wir blind an
…schauen wir nur, wo wir selbst bleiben
…handeln wir rücksichtslos
…tun wir, was wir glauben, tun zu müssen
…verurteilen wir andere
…lästern, schimpfen wir über andere
…weisen wir Fehler strickt von uns
…tun wir Dinge, von denen wir wollen, das sie gelobt werden
…tun wir Dinge aus unechter Empathie, weil wir dafür gemocht werden
…wollen wir unbedingt gesehen werden
Wann Ego aktiv wird
Ego, also unser Ich, wird dann aktiv, wenn unser autonomes Nervensystem sich unbewusst bedroht fühlt: Wenn wir uns zurückgewiesen und an eine alte Verletzung erinnert fühlen, wenn unsere Zugehörigkeit gefährdet ist und wir darum kämpfen, wenn wir aufgrund alter Erfahrungen Angst davor haben, einen Fehler zu machen oder sogar falsch zu sein.
Ego tritt vor allem dann in Erscheinung, wenn wir ein Bild von uns aufrecht erhalten müssen, weil der Zerfall für uns untragbar wäre; weil wir unsere Zugehörigkeit, Bindung, unser Selbstbild unbedingt aufrecht erhalten müssen. Denn seine Bedrohung, die Bedrohung des «Ich» ist für unser autonomes Nervensystem, das sich konstant sich selbst versichert und für unser Überleben zuständig ist, eine Bedrohung.
Bedrohung führt zu Egoismus
Wir lernen im Laufe unserer kindlichen und jugendlichen Entwicklung, wer wir sein müssen, um Zugehörigkeit zu erfahren. Wir machen Erfahrungen, wann wir ausgestossen werden und welche Rollen wir zu erfüllen haben.
In der Form einer gelebten Erfahrung bildet sich die Person, von der wir bewusst glauben, das wir sie sind. Dazu gehört auch Ego, das versucht, unsere Rolle, unsere Zugehörigkeit, unser Selbstbild zu schützen.
In dem Moment, in dem unser autonomes Nervensystem eine unbewusste Bedrohung spürt, reagiert es darauf mit einer Schutzreaktion: Ego, also Ich, muss mit aller Kraft verteidigt werden. Wir werden mobilisiert oder gelähmt. In diesem dysregulierten Zustand sind wir egoistisch, denn es geht im Grunde genommen nur noch um unser Überleben und unsere Zugehörigkeit.
Für Empathie ist da kein Platz mehr. Stattdessen fühlen wir uns bedroht, ausgeschlossen, sind misstrauisch, getrieben und auf uns selbst bezogen.
Reguliert leben wir unser höheres Selbst
In einem regulierten, ventral-vagalen Zustand sind wir offen für soziale Bindung. Wir haben echtes Mitgefühl und sehen Chancen statt gefahren. Wir sind uns unserer selbst bewusst und fein mit uns selbst.
Wir fühlen uns in unserer Haut und in unserer Zugehörigkeit sicher und reflektieren. In gewissen Konzepten würde man vom höheren, authentischen, wahren Selbst sprechen.
Denn in diesem Zustand sind wir nicht davon gesteuert, was unser Nervensystem glaubt, dass wir tun müssen, um sicher zu sein.
Ego braucht mehr Mitgefühl vom höheren Selbst
Ich bin davon überzeugt, dass Ego mehr Mitgefühl verdient. Ja, auch Ego-ismus. Denn er ist Ausdruck einer tiefen Verunsicherung.
Ist es einfach, dafür Mitgefühl oder sogar Wohlwollen zu empfinden? Definitiv nicht. Ego ist gefährlich, Ego zerstört die Welt. Ego grenzt andere aus, Ego beisst zu, wenn es sich bedroht fühlt. Aber wenn wir mit dem Finger darauf zeigen, wird es nur noch bissiger.
Das gilt auch für uns selbst. Wir können vom Ego lernen. Welche Dinge flüstert es uns zu, wenn wir uns bedroht fühlen? Welche alten Erinnerungen und Überzeugungen hält es aufrecht, um uns zu schützen? Welche Dinge lässt es uns tun, obwohl wir sie gar nicht mögen (aber sie zu unserem Ego gehören). Wo fühlt sich unser Ego bestätigt und gelobt und wo tun wir Dinge in aller Stille aus echtem Mitgefühl?
Mehr dazu im nächsten Blogbeitrag:
Wer bist du, wenn du nicht fremd bestimmt bist?