Die existentielle Erschöpfung, niemals wirklich sicher zu sein (BfS-Gesundheitsbefragung 2022)

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Die Schweizerische Gesundheitsbefragung 2022 stellt fest, dass gesellschaftlich geprägte Geschlechterrollen die Gesundheit beeinflussen. Mehr weiblich gelesene Personen geben chronische Krankheiten und Symptome einer Depression an. Eine polyvagal-informierte Perspektive auf die Befragung und die existentielle Gefahr, niemals wirklich sicher zu sein. 

In diesem Beitrag:
Mehr Frauen geben an, unter Depressionen zu leiden

Die aktuelle Gesundheitsbefragung (2022) des Bundesamts für Statistik zeigt einen deutlichen Unterschied zwischen Geschlechtern auf: Weiblich gelesene Personen geben häufiger an, an einer chronischen Krankheit zu leiden und berichten auch häufiger von von mittelschweren bis schweren Depressionssymptomen.

Die Medienmitteilung des BfS nennt in diesem Zusammenhang  Sexismus, sexuelle Übergriffe und geschlechterspezifisch gesellschaftliche Faktoren. 

Ein weiblicher Körper = mehr Vorsicht nötig!

Das autonome Nervensystem, das unser Denken und Handeln ständig beeinflusst, reagiert ab dem Tag unserer Geburt auf die Umwelt im Sinne des Überlebens und ist auf der Suche nach Sicherheit in Form von physischer Unversehrtheit, einem inneren Gleichgewicht aller körperlichen Prozesse (Homöostase) und sozialer Bindung.

Als weiblich gelesene Person wird man geboren und lernt früh, dass man niemals ganz so sicher sein wird, wie eine männlich gelesene Person (mit heterosexueller Orientierung). Denn der eigene Körper, die eigene Haut, sind bereits ein Grund dafür, ständig auf der Hut sein zu müssen. 

Wir lernen früh, was wir tun sollten, um sicher zu sein

Eltern sind immer darum besorgt, ob ihre Kinder sicher sind. Und sie geben ihren Kindern das weiter, wovon sie glauben, dass es dazu führt, dass sie so sicher wie möglich sind.

Mädchen wird oft schon früh beigebracht, dass sie auf ihren Körper aufpassen müssen und niemals ganz sicher sind. Denn der weibliche Körper ist per se schon ein Faktor, der die Möglichkeit eines sexuellen Übergriffes massiv erhöht.

Als Mädchen lernt man früh, sich ansprechend zu kleiden und auszusehen, aber auch aufzupassen, was man in der Öffentlichkeit trägt und wie viel Haut man zeigt. Man lernt, hübsch zu sein, aber auch nicht zu hübsch.

Man lernt, dass der eigene Intimbereich mit Scham verknüpft ist und man sich sehr überlegen muss, wem man diesen Bereich zeigt.

Man lernt, dass viele Stellen am eigenen Körper gewisse Erwartungen schüren. Und obwohl man einfach in diesem Körper geboren wurde, ist man dafür zuständig, die Erwartungen anderer zu managen. Reizt eine weiblich gelesene Person mit ihrem Körper einen Mann, ist das ihre Verantwortung.

Und obwohl man ansprechend aussehen, aber bitte auch niemanden mit seinem Körper zu sehr reizen sollte, obwohl man immer als schwächer gilt, aber ein starkes Mädchen sein sollte, obwohl man sowieso emotionaler und sensibler ist, aber sich bitte nicht zu sehr anstellen soll, wird einem von der Gesellschaft ständig lautstark gesagt:

Du hast genau die gleichen Chancen und Möglichkeiten. Nutze sie gefälligst auch und behaupte dich (aber sei nicht zickig dabei). 

Widersprüchliche Botschaften und Prägungen

Als weiblich gelesene Person lernt man früh, dass man das schwächere Geschlecht ist. Trotzdem wird spätestens mit dem Einsetzen der Menstruation erwartet, dass man sich nicht so anstellt, was Schmerzen betrifft. Berichtet man in medizinischen Settings von Schmerzen, ist man oft sensibel und schwierig und «sollte sich nicht so anstellen».

Ist man dann aber betont stark und unabhängig, gilt man dann doch nicht als «richtige Frau». Erfolgreich, stark, weiblich? «Die hat sich bestimmt hochgeschlafen!» (obwohl man das ja auf keinen Fall tun sollte, weil man schliesslich mit dem eigenen Körper manipuliert und verführt).

Obwohl gesellschaftlich die Chancen für alle Geschlechter ähnlicher werden und Quoten die Präsenz von Frauen garantieren sollen, ist man irgendwie doch ständig damit konfrontiert, in einem weiblich gelesenen Körper zu stecken: Ist man deutlich, ist man zu hart. Zeigt man Gefühle, ist man emotional. Verlangt man das Gleiche, ist man zu gierig. Bekommt man eine Chance, muss man sich oft doppelt so oft beweisen, obwohl man halb so viel Spielraum hat.

Frauen, die vier Tage in der Woche arbeiten, sind schlechte Mütter. Männer, die einmal in der Woche einen Papi-Tag machen, sind so tolle Väter. Entscheidet man sich als Frau Vollzeitmutter zu sein, wird man auf die fehlende Pensionskasse hingewiesen. Entscheidet man sich, zu arbeiten, fragt niemand nach, wie man die Doppelbelastung hinbekommt. Ist man Vollzeitmutter, muss man mindestens ein Unternehmen nebenbei aufbauen: Sonst verliert ja man schliesslich all seine Fähigkeiten und schafft nie wieder den Einstieg ins Berufsleben.

Die Erschöpfung, niemals sicher zu sein

Um uns sicher zu fühlen, brauchen wir die Klarheit, zu wissen, was wir tun sollen (um sicher zu sein). Widersprüchliche Erwartungen sorgen dafür, dass wir nicht mehr wissen, was wir tun sollen. Weiblich gelesene Personen sind ständig mit tausenden widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert und versuchen, darin zu navigieren. Die Schweizerische Gesundheitsbefragt nennt psychosoziale Faktoren und geschlechterspezifische Rollen explizit als Teilgründe für die Ergebnisse der Befragung.

Aber was bedeutet es nun genau, wenn wir uns nicht sicher fühlen?

Unser autonomes Nervensystem hat mehrere autonome Reaktionsmuster, die es auf gefühlte Bedrohung anwenden kann. Zuerst versuchen wir, Hilfe zu bekommen (soziale Bindung). Dann werden wir mobilisiert und versuchen, alles zu tun, damit wir wieder sicher sind (sympathikotone Mobilisierung). Gelingt es uns nicht, die gefühlte Bedrohung über Aktivität zu beseitigen, aktiviert unser Nervensystem irgendwann seine letzte und stärkste Schutzstrategie: Den dorsal-vagalen Shutdown.

Ein neurophysiologischer Nährboden für Depressionen

Der dorsal-vagale Vagusnervast sorgt bei gefühlter Lebensgefahr dafür, dass wir zuerst einfrieren und irgendwann kollabieren. Sprich, wenn wir alles versucht haben und unser autonomes Nervensystem trotzdem keine Sicherheit findet, erlebt das autonome Nervensystem eine existentielle Gefahr, die es nicht beseitigen konnte.

Und es entscheidet: Jetzt ist es besser, aufzugeben und sich tot zu stellen (die Bezeichnung Totstellreflex kommt aus der Tierwelt und bedeutet, dass sich ein Tier totstellt. Entweder wird es nicht gefressen, weil tote Beute gefährlich ist oder es bekommt nicht mehr mit, wie es gefressen wird). Der Totstellreflex sorgt auch beim Menschen bei gefühlter Lebensgefahr dafür, dass wir unbeweglich werden, stillstehen und uns möglichst nicht mehr bewegen. Wir sind erschöpft, einsam, können uns kaum mehr aufraffen, sind taub und motivationslos. Wir fühlen uns wie aus dem Leben gerissen.

Eine dorsal-vagale Schutzreaktion bildet oft den neurophysiologischen Nährboden einer Depression. Einfach ausgedrückt, erleben wir eine existentielle Lebensgefahr, weil unser Nervensystem keine Sicherheit gefunden hat, egal, wie sehr wir uns bemüht haben. 

Fazit

Wer ständig mit Widersprüchen konfrontiert ist, oft ungefragt mehr leisten muss und trotzdem niemals ganz sicher ist, muss sich ständig darum bemühen, irgendwie doch sicher zu sein. Wir erlernen früh Strategien, die uns Zugehörigkeit, Anerkennung und gefühlte Sicherheit ermöglichen. Diese Strategien erfordern sehr viel Energie und Einsatz.

Fühlen wir uns nicht sicher, obwohl wir uns unfassbar angestrengt haben, kann das autonome Nervensystem irgendwann entscheiden, dass es keinen Sinn mehr macht, weiter zu rennen und es besser ist, aufzugeben.

Wenn wir uns lange unglaublich anstrengen, kann irgendwann der Moment kommen, wo wir feststellen: Und es reicht doch niemals wirklich. In diesem Moment kann unser autonomes Nervensystem die Reissleine ziehen und uns lähmen. Diese Lähmung wird in einer polyvagal-informierten Arbeit als möglicher Teilaspekt und Nährboden für eine Depression verstanden.

Und am Ende kann ich die Kommentare unter der aktuellen Befragung schon lautstark: «Frauen sind einfach zu sensibel und sollten sich nicht immer so anstellen». 

Nachtrag

Unsere Gesellschaft ist im Wandel. Wir arbeiten daran, viele geschlechterspezifischen Erwartungen, Nachteile und Stereotypen aufzubrechen, die schon seit hunderten von Jahren bestehen. Ich möchte aus meiner persönlichen Perspektive unterstreichen, dass für diesen Wandel die heterosexuellen Cis-Männer extrem wichtig sind. In einer Gesellschaft, die männlich gelesenen Menschen nach wie vor Vorteile einräumt, sind sie ein wichtiger Teil für Veränderung. So, wie Feminismus nicht bedeutet, Männer zu hassen ist das Aufzeigen von gesellschaftlichen Problemen kein Fingerzeig auf alle Männer. Es ist ein Fingerzeit auf eine Gesellschaft, die als ganzes Probleme hat und als ganzes an der Veränderung arbeiten muss.

*Die Befragung spricht explizit von Frauen und meint damit grob weiblich gelesene Personen. Die Befragung bezieht sich später in einem Nebensatz auf transgender und non-binäre Menschen sowie Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung als heterosexuell, weshalb ich davon ausgehe, dass immer heterosexuelle Cis-Frauen gemeint sind. 

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Ich habe mich auf die alltägliche Anwendung der Polyvagal-Theorie spezialisiert. Ich arbeite im 1:1- und 1:2-Setting mit Privatpersonen, Paaren & Familien und berate Unternehmen.

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