Selbst-gut-sein statt Selbstliebe

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Selbst-gut-sein bedeutet, aktiv Dinge zu tun, damit wir uns auf tiefster innerer Ebene gut, richtig und wohl fühlen. Wir betrachten es als Teil unseres täglichen Daseins, gut zu uns selbst zu sein. Im Gegensatz zu Begriffen wie «Selbstliebe» und «Selbstfürsorge», die oft mit einer beinahe erzwungenen Liebe zu sich selbst oder einer anstrengenden Fürsorge für sich selbst in Verbindung gebracht werden, ist Selbst-gut-sein ein sehr natürlicher, instinktiver Prozess, der zum Leben gehört, wie das Atmen. 

In diesem Beitrag
Warum nicht Selbstliebe?

Oft sitzen Menschen vor mir, die sagen, «wenn ich doch nur mehr Selbstliebe hätte». Es erscheint ihnen fast unmöglich, sich selbst in einer Form zu lieben, die es ihnen erlaubt, sich selbst Gutes zu tun und ungesunde, ungute Verhaltensweisen zu verändern.

Irgendwie habe ich in der Coaching-Arbeit die Erfahrung gemacht, dass diese Liebe für sich selbst, von der wir oft lesen und hören, in der Praxis gar nicht so einfach ist. Und vielleicht liegt es daran, dass wir oft gezeigt bekommen, dass Selbstliebe bedeutet, sich selbst zu feiern, mit Liebe zu überschütten und immer zu sich zu stehen.

Für viele meiner Klient:innen ist diese Form der Liebe aber eher bedrohlich.

Warum nicht Selbstfürsorge?

Fürsorge ist ein schönes Wort. Aber ich erlebe oft, dass Menschen vor mir sitzen und mit der Aufgabe, aktiv für sich sorgen zu müssen, überfordert sind. Insbesondere Menschen, die gelernt haben, die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen zuerst zu erfüllen, tun sich schwer damit, Selbstfürsorge zu betreiben.

Sowohl Selbstliebe als auch Selbstfürsorge werden insbesondere in den (Sozialen) Medien oft als Wellness-Ding präsentiert: Sich selbst eine Pause einplanen, ein schönes Bad einlassen, die Bedürfnisse anderer für einmal zur Seite legen und sich selbst eben einfach lieben.

Warum Selbst-gut-sein?

Liebe ist ein Gefühl, das uns zu anderen Menschen und Dingen hinzieht. Wir spüren: Da ist es richtig! Ich glaube nicht unbedingt daran, dass man sich selbst ebenso lieben müsste. Ich glaube eher an eine natürliche, instinktive und ganz einfache Form des Gut-seins zu sich selbst.

Ich lasse mich hier von der «amour de soi» des Denkers, Philosophen und Gelehrten Jean-Jaques Rousseau* inspirieren. Übersetzt bedeutet das Selbstliebe, aber gemeint hat er eine ganz natürliche Form von Selbstachtung und Selbsterhaltung, die wir tun, damit es uns körperlich und psychisch gut geht und wir aus diesem Wohlbefinden heraus auch für andere Menschen Gutes tun können.

Es geht darum, sich um sich selbst zu kümmern, ohne dabei anderen zu schaden. Für mich bedeutet das einfach, gut zu mir und mit mir zu sein.

Was bedeutet «amour de soi»?

Für Rousseau war es wichtig, dass diese Art der Selbstliebe nichts mit Vergleichen, Stolz oder Eitelkeit zu tun haben. Es ist eine natürliche Art, sich um sich selbst so zu kümmern, dass es einem gut geht und man für andere Mitgefühl empfindet.

Dazu gehört:

  • Ein gesundes Einteilen seiner Kräfte
  • Essen, wenn der Körper Nahrung braucht
  • Ruhe, wenn der Körper Erholung braucht
  • Freude an Dingen, die man tut, ohne besser sein zu wollen, als andere
  • Respekt vor eigenen Bedürfnissen
  • Neugier, neue Dinge zu lernen und die Welt zu erkunden

Wenn wir gut zu uns selbst sind, tun wir diese Dinge, damit es uns gut geht. Und wir vergleichen uns nicht mit anderen Menschen dabei, sondern finden unseren eigenen, natürlichen Rhythmus.

Und was hat das mit dem Nervensystem zu tun?

Wir stimulieren den Vagusnerv und damit den Teil des autonomen Nervensystems, der für Ruhe, Gelassenheit und Erholung zuständig ist, mit vielen sehr simplen Dingen:

  • Tiefes, gutes Atmen
  • Frische Luft, Spaziergänge
  • Singen, Summen
  • Neugier, Freude, Spiel
  • Positive soziale Interaktionen
  • Zeit für sich, Ruhe
  • Balance

Es mag simpel klingen, aber Selbst-gut-sein bedeutet keine besonderen Badesalze, Wellness-Behandlungen oder sich selbst zu feiern (auch wenn das alles schöne Dinge sind). Selbst-gut-sein bedeutet, einfache, natürliche Dinge zu tun, die uns gut tun: Ausreichend zu essen, ausreichend zu schlafen, sich zu freuen, zu spielen, gute Unterhaltungen zu haben, den Körper zu bewegen, die Natur zu geniessen, seine eigenen Stärken und Schwächen zu kennen, seine Ressourcen gut einzuteilen.

Wir sind gut zu uns selbst, in einer ganz simplen Art und Weise. Und haben damit mehr innere Balance, um gut zu zu anderen zu sein. Denn ein ausbalanciertes autonomes Nervensystem ist der Grundstein dafür, dass wir Vertrauen, Respekt und Mitgefühl für andere Menschen haben und nicht Dinge für andere tun, um uns besser zu fühlen. Genauso ist ein ausbalanciertes Nervensystem die Basis dafür, dass geduldig sind, uns nicht schnell angegriffen oder im Stich gelassen fühlen.

Zu sich selbst gut zu sein ist eine Art der Lebensführung, nicht nur eine einmalige Aktion.

Und was hat das mit mir zu tun?

Wo kannst du gut mit dir sein und deine natürlichen Bedürfnisse abholen? Nicht um ein Ziel zu erreichen, nicht um dich besonders zu feiern, nicht aus einem Grund, sondern einfach, damit du dich gut genährt, gut ausgeruht, gut in Balance fühlst?

  • Kannst du eine Pause einplanen, das Fenster öffnen und dich strecken?
  • Kannst du dich ausruhen, weil du müde bist (obwohl noch nicht alles fertig ist)?
  • Kannst du dich regelmässig bewegen, in einer Form, die sich für dich gut anfühlt (ohne, dass du darin sehr gut werden musst)?
  • Kannst du dir genug gute Mahlzeiten einplanen (nicht weil du ein Ziel erreichen möchtest, sondern damit dein Körper einfach genug Treibstoff hast)?
  • Kannst du gut zu dir sein, einfach weil du wieder einen Tag geleistet hast (und ohne, dass du etwas besonders Grosses erreicht hast)?
*Nachtrag

Natürlich ist nicht alles, was Rousseau gelehrt hat, so ganz in meinem Sinne. Aber das Konzept von «amour de soi» und «amour propre» finde ich sehr gelungen. Ausserdem hat er vieles beobachtet, was wir heute aus Nervensystem-informierter Sprache kennen. Siehe hier auch meinen Beitrag zur Neurozeption.

 

 

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