Ist rationales Verhalten eine Illusion?

Immer wieder begegnen mir Aussagen und Vergleiche, die «rational» und «emotional» gegenüberstellen, wobei ersteres oft bevorzugt wird. Wir wollen «rational» reagieren und uns nicht von unseren Emotionen leiten lassen. Nicht selten wird ein «emotionales Verhalten» sogar als unvernünftig kritisiert.

Rationales Verhalten bedeutet umgangssprachlich nichts anderes, als ein «von Vernunft bestimmtes, logisches, überlegtes Handeln». Dabei glauben wir, eine rationale Entscheidung sei wohlüberlegt, im schlauen Gehirn abgewogen und durchdacht. Was wir dabei vergessen, ist, dass viele autonome Prozesse in unser Verhalten und unsere Entscheidungen einwirken. Diese autonomen Prozesse basieren auf unseren körpereigenen Algorithmen, die basierend auf früheren Erlebnissen und aktuellen Sinneseindrücken eine Situation unbewusst beurteilen und entsprechende Reaktionsmuster auslöst.

Ein Beispiel

Über die so genannte Neurozeption scannt unser autonomes Nervensystem konstant unsere Umwelt. Sowohl die Mimik als auch die Stimmlage unseres Gegenübers sowie dessen Bewegungen und Haltung fliessen in die autonome Bewertung mit ein, ob wir einen Menschen als sicher empfinden oder nicht. Nun wollen wir zum Beispiel «ganz rational» entscheiden, ob ein Mensch gut zu unserem Team passen würde. Wenn dieser Mensch aber aufgrund seiner Mimik, seines Verhaltens oder seinen Bewegungen bei unserem Nervensystem die Bewertung «nicht sicher» auslöst, kann es sein, dass wir trotz dem perfekten Lebenslauf dieser Person einen Grund finden, warum sie einfach nicht zu uns passt. Ist das nun «rational»?

Das autonome Nervensystem entscheidet über einen Algorithmus, ob wir sicher sind

Wir vergessen, dass die künstliche Intelligenz, über die wir gerade überall sprechen, der menschlichen Funktionsweise nachempfunden ist. Der Mensch kann sich intelligent verhalten, weil er über seine Nervenzellen, die Neuronen, Sinneseindrücke zu Informationen verarbeiten und diese Informationen verknüpfen kann. Er lernt aus dem Erlebten, verknüpft Zusammenhänge und wendet das Erlernte auf neue Situationen an. So funktionieren auch künstliche neuronale Netzwerke, mit denen «künstliche Intelligenz» dazu fähig ist, grosse Mengen von Daten zu sortieren, zu verknüpfen und daraus zu lernen. Die Polyvagal-Theorie zeigt uns nun auf, dass unser autonomes Nervensystem basierend auf einem komplexen, automatisierten Algorithmus Entscheidungen trifft, die immer zum Ziel haben, unser Überleben zu sichern. Wenn wir nun also in einer aktuellen Situation sind, bewertet unser autonomes Nervensystem nicht nur diesen Moment; es verarbeitet die Situation basierend auf früheren Erfahrungen und löst entsprechende Schutzmassnahmen aus. Das führt dann zu autonomen Reaktionen, die mitunter alles andere als «rational» sind.

Lernen, die eigenen Muster zu beeinflussen

Warum es uns helfen kann, uns von dem Vergleich «rational» vs. «emotional» zu lösen? Weil wir wiederkehrende Verhaltensweisen, die uns stören, nicht mehr als emotional klassifizieren und abwerten, sondern versuchen, dem Muster hinter diesen Reaktionsweisen auf die Spur zu kommen und damit auch den früheren und aktuellen Einflüssen, die unser autonomes Nervensystem dazu bringen, mit Impulsivität, Wut, Vermeidung, Prokrastination, Angst oder Lähmung zu reagieren. Diese erlernten Reaktionsmuster können wir damit beeinflussen, dass wir unserem autonomen Nervensystem dabei helfen, sich sicher zu fühlen und seine automatisierten Abläufe anzupassen.

Nur wenn wir uns sicher fühlen, sind wir «Herr:in» über unsere Reaktionen und können unsere Emotionen, Stimmungen und Verhaltensweisen auf die Situation angepasst beeinflussen.

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