Erfühlen, erkennen, erklären, ersetzen

Viele meiner Klient:innen beobachten sich schon sehr genau selbst. Und sie sind an einen Punkt gekommen, an dem sie festgestellt haben, dass ihre wiederkehrenden Reaktionsmuster und Verhaltensweisen sie stören und gewisse Emotionen sie überfordern. Aber sie haben noch keinen nachhaltigen Weg gefunden, anders damit umzugehen. In meiner Arbeit mit Menschen nutze ich ein Framework, dass von Therapeutin Deb Dana inspiriert und in der praktischen Anwendung mit meinen Klient:innen für meine Vorgehensweise angepasst wurde.

Erfühlen

In einem bewertungsfreien Raum zeichnen mir Menschen die Situationen und ihre Reaktionsmuster, Verhaltensweisen und Emotionen auf. Sie dürfen ohne Filter erzählen, was in ihnen vorgeht und erfahren von mir absolutes Verständnis für das, was in ihnen vorgeht und sie erleben. Manchmal begleite ich sie direkt in die Situation hinein und lasse sie beschreiben, wie sie sich in dieser Situation fühlen, ob der Körper auf diese Situation reagiert und wie sich das Gefühl anfühlt. Manchmal externalisieren wir das Gefühl auch, geben ihm eine Form, Farbe oder einen Charakter.

Erkennen

Wir ordnen die Situation, die wir erfühlt haben, nach dem polyvagalen Verständnis in einen Zustand des autonomen Nervensystems ein. Fühlen wir uns in dieser Situation angegriffen oder möchten wir flüchten oder geraten wir in eine Lähmung, weil weder Kampf noch Flucht möglich sind. Wir gehen dem autonomen Muster auf den Grund, das sich das autonome Nervensystem angeeignet hat und erkennen, dass jede noch so ungewollte Reaktion eine Schutzreaktion unseres autonomen Nervensystems ist, das uns in jeder Situation sichern und uns soziale Verbindungen ermöglichen möchte, die für uns existentiell sind.

Erklären

Nachdem wir erkannt haben, welcher autonome Zustand hinter unserer Reaktion und unseren Gefühlen steckt, versuchen wir zu erkennen, in welcher Situation unser Nervensystem dieses Muster gelernt hat und wie wir dieses alte, meistens kindliche Muster immer und immer wieder auf aktuelle Situationen anwenden, obwohl es uns nicht mehr nützlich ist und wir als erwachsene Menschen andere Ressourcen und Möglichkeiten haben. Als Kind waren wir insbesondere gegenüber unseren Eltern darauf angewiesen, die Bindung aufrecht zu erhalten. Das hat teilweise zu Anpassungsmustern geführt, die uns als Erwachsene daran hindern, gesunde, sichere Bindungen einzugehen.

Ersetzen

Ich arbeite oft mit Bildern, die meine Klient:innen in einem entspannten Setting erforschen. Diese Bilder sollen uns dabei helfen, die erlernten Reaktionsmuster und Verhaltensweisen langsam zu verändern und unserem System, das gewisse Situationen als gefährlich empfindet, dabei helfen, wieder in einen Zustand von Sicherheit, Verbundenheit und damit Gelassenheit zu kommen. Manchmal nutzen wir auch eine Erkenntnis dafür, unsere Reaktion zu verändern. Indem wir zum Beispiel unsere Haltung gegenüber anderen Menschen, die uns innerlich stressen, beeinflussen und ein Verständnis für ihre Reaktionsmuster und Verhaltensweisen erlernen. Das kann uns ebenfalls Ruhe und Sicherheit vermitteln.

Ein Beispiel, wie dieses Vorgehen sich Schritt für Schritt für einen Menschen anfühlt:

Erfühlen

Eine lange To-Do-Liste fühlt sich für mich oft an, wie ein Gefängnis. Wie eine Liste voller Dinge, die ich tun muss und die mir die Möglichkeit nehmen, frei zu sein. Mich auf eine Aufgabe konzentrieren zu müssen ist manchmal sehr anstrengend, weil ich mich begrenzen muss und meine Gedanken nicht fliessen lassen kann. Dieses Gefühl der Enge, wenn ich viele Dinge in einem gewissen Zeitraum erledigen muss, erinnert mich an ein Kind, das gern spielen würde, aber zuerst viele Dinge erledigen muss, bevor es darf darf. Oft falle ich in eine Zustand voller Angst und innerem Stress, wenn ich viele Termine habe und viel erledigen muss. Nicht, weil ich es nicht könnte. Sondern weil der blosse Gedanke daran, wie wenig Zeit «für mich» übrig bleibt, mich innerlich stresst. Ich suche dann nach Auswegen, mache tausend andere Dinge. Oder ich werde wütend, weil mir so viele Aufgaben auferlegt werden.

Erkennen

Ich glaube, als Kind wurde ich oft in mein Zimmer geschickt. Ich war dann wütend oder wollte davonlaufen, aber das ging als Kind ja nicht. Weder Kampf noch Flucht waren möglich, aber das war die Reaktion, die mein Nervensystem initiiert hat. Weil das beides nicht ging, habe ich ausgehalten und mein innerer Stress wurde so gross, dass ich irgendwann wie gelähmt war. Das geht mir oft auch heute noch so. Wenn ich tausend To Dos sehe, bin ich manchmal sofort gelähmt, obwohl mein Kopf weiss, dass ich alles schaffen kann. Aber ich fühle mich dann ohnmächtig, Gefangen und eingesperrt. Und dieses Eingesperrt sein, das nimmt mir die Luft zum atmen.

Erklären

Manchmal kommt es mir vor, als wäre mein Leben der Rebellion gegen Grenzen gewidmet. «Geht nicht», gibt es in meinem Wortschatz nicht. Ich beweise immer wieder, dass ich viel schaffen und auch weit über meine eigenen Grenzen hinaus gehen kann. Aber wenn ich viele Dinge zu tun habe, viele Termine und viele Dinge gleichzeitig von mir erwartet werden, renne ich entweder darauf los und verliere mich darin, alles zu schaffen. Manchmal mache ich dann auch tausend Dinge, die sich nach mehr Spass und Freiheit anfühlen, als die vermeintliche Pflicht. Oder ich werde unruhig und fühle mich ängstlich, gelähmt oder wütend, weil ich so viel erledigen sollte. Diese Spirale dreht sich dann weiter, so, dass ich mich am Ende komplett einsam und im Stich gelassen fühle, weil ich so viel erledigen soll, so viel von mir erwartet wird und mir niemand hilft. Das stimmt natürlich nicht, aber da ist die Geschichte, die in meinem Kopf passiert. Ich glaube, als Kind wurde wirklich viel von mir erwartet, während ich oft allein in meinem Zimmer sass. Im Bemühen, mich nie wieder so eingesperrt zu fühlen, lasse ich mich von vielen Dingen stressen, die sich nach einem Gefühl des Eingesperrt-Seins anfühlen, aber es gar nicht sind. Wie lange To-Do-Listen.

Ersetzen

Wenn ich meiner To-Do-Liste die Säbelzahntiger-Maske runter reisse und sehe, dass nicht von den vielen Aufgaben und schon gar nicht von den Menschen, die sie mir geben, eine Gefahr ausgeht, kann ich verstehen, dass die Gefahr, die mein System einmal gespürt hat, schon lange vorbei ist. Heute habe ich alle Ressourcen, um meine eigenen Grenzen zu setzen und meine Aufgaben so einzuteilen, dass ich Zeit für mich habe um mich frei zu fühlen. Wobei das Gegenteil meiner To-Do-Liste gar nicht die Freiheit ist, das habe ich nur lange so empfunden. Es liegt also allein an mir, vermeintliche Grenzen, wie eine To-Do-Liste, statt als Betonmauer als flexiblen Draht zu sehen, den ich mir so biegen kann, dass es mir gefällt und es sich nicht zu eng anfühlt.

Ich verstehe jetzt, dass ich nicht mehr eingesperrt bin. Ich bin frei, aber darf mich an To-Do-Listen, Arbeitszeiten, Erwartungen und Grenzen orientieren und versuchen, sie als flexible Drähte zu sehen, die ich mir ein wenig zurechtbiegen kann. Es sind keine Mauern, es sind Drähte, die mir helfen können. Oder ich stelle mir vor, mein Leben ist ein Fluss. Obwohl ich Grenzen habe, fliesse ich innerhalb dieser Grenzen mal schneller, mal langsamer. Das fühlt sich sehr frei an für mich.

Und wenn ich mir überlege, dass meine Eltern oft mit vielen eigenen Ängsten beschäftigt waren, glaube ich sogar, sie haben es gut gemeint, mich so oft in mein Zimmer zu schicken und mir viele Dinge nicht zu erlauben. Sie haben versucht, Sicherheit zu schaffen. Nur war ihr Weg für mich eine Gefahr, die inneren Stress ausgelöst hat. Und diesen Stress habe ich mich heute oft auf andere Menschen projiziert, von denen ich mich im Stich gelassen, ausgenützt oder überfordert gefühlt habe. Aber ich muss heute, wenn mein innerer Stress hochkocht, keine vermeintlichen Angreifer:innen mehr suchen, vor denen ich weglaufen oder die ich bekämpfen kann. Ich stelle mir heute auch meine Chef:innen, Freund:innen, Mitarbeiter:innen oder Partner:innen gern als Fluss vor, der sein eigenes Wasser transportiert und manchmal zusätzliches Wasser in mein Flussbett spült. Trotzdem bleibt mein Leben mein eigener Fluss und ich kann fliessen.

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