Gefühle als Navigationssystem

Gefühle sind etwas ominöses, das uns zuweilen sogar etwas Angst macht. Ich arbeite immer wieder mit Klient:innen, die sich regelrecht davor fürchten, an gewisse Gefühle, die in ihrem Innern brodeln, heranzutreten. Es kommt mir oft vor wie ein Angst vor der Büxe der Pandora: Einmal geöffnet, unaufhaltbar.

Und je nachdem, wie unseren Gefühlen in der Vergangenheit begegnet wurde und was unsere ersten Bezugspersonen für eine Beziehung zu ihren Gefühlen hatten, hat sich unser Umgang mit unseren eigenen Gefühlen geformt und wir empfinden manche oder fast alle Gefühle als unsicheres Terrain.

Wie haben unsere ersten Bezugspersonen auf unsere Gefühle reagiert?
Obwohl wir über viele Themen unendlich viel wissen, scheinen uns diese Gefühle nach wie vor irgendwie nicht ganz verständlich, wenn nicht sogar lästig zu sein. In unserer leistungsorientierten Gesellschaft werden Gefühle oft als Schwäche gesehen, insbesondere solche, die sich unangenehm anfühlen.
In der Bindungsforschung wird oft beobachtet, wie sich Säuglinge und Kleinkinder verhalten, wenn ihre primären Bezugspersonen den Raum verlassen und wieder zurückkommen. Hier ist insbesondere spannend, wie die Bezugsperson auf die Gefühlsäusserung ihres Kindes reagiert: Ist es der Bezugsperson sichtlich unwohl, dass ihr Kind schreit und weint und auf den Arm genommen werden möchte? Versuchen die Eltern das Kind abzulenken, ihm zu sagen, es sei gar nicht so schlimm? Die Bindungsforschung lässt erahnen, dass Säuglinge jede Bewegung, jede Verhaltensweise ihrer Bezugsperson studieren und bereits mit wenigen Monaten lernen, sich auf die Verhaltensweisen anzupassen. Spüren sie Unwohlsein ihrer Bezugspersonen, wenn sie gewisse Gefühle oder Bedürfnisse äussern, beginnen sie manchmal, diese nicht mehr zu zeigen. Denn das wichtigste überhaupt für Säuglinge und Kleinkinder ist die Bindung, dass ihre primären Bezugspersonen in der Nähe bleiben und sich wohl fühlen.

Bereits die ersten Monate unseres Lebens haben einen immensen Einfluss darauf, was für unbewusste Bewertungen wir gegenüber unseren Gefühlen abspeichern.

In meiner Arbeit betrachte ich unser Gefühle als Teil einer Antwort auf unsere Umwelt. Auch das Verhalten von Kindern ist eine Reaktion auf etwas und meistens viel weniger zufällig als wir oft glauben.

Gefühle durch eine neue Perspektive als sinnvoll erkennen

Wenn wir als Erwachsene unsere Gefühle aus einer neuen Perspektive betrachten und sie als Teil einer Reaktion auf etwas verstehen, können wir nicht nur lernen, damit zu arbeiten. Wir können auch erreichen, dass Gefühle sich nicht mehr gefährlich, bedrohlich und diffus anfühlen.

«Gefühle sind die bewusste Interpretation unseres Denkens von dem, was wir im Körper unbewusst spüren», schreiben Stephen W. und Seth Porges in ihrem Buch «Our Polyvagal World». Wir nehmen Gefühle also dann bewusst war, wenn eine unbewusste, physische Reaktionskette bereits auf reagiert hat. Und wiederum beeinflussen unsere Gedanken über die Gefühle, die von einem unbewussten Prozess ausgelöst werden, diesen Prozess und so ergibt sich eine Reaktionskette, die viel umfassender ist als wir es uns manchmal bewusst sind.

Wenn wir aus dem Gefühl heraustreten und versuchen, es einzuordnen und als Signale unseres Nervensystems dafür zu sehen, dass wir uns entweder gerade sicher, gefährdet oder in Todesgefahr fühlen, können wir einen Sinn in selbst sehr unangenehmen Gefühlen finden.

Sinnhaftigkeit von dem, was wir erleben ist der erste Schritt dafür, dass wir wieder in eine aktive Position kommen können, in der wir auch einen bewussten Einfluss auf unser Erleben nehmen können.

Zu lernen, dass (manche) Gefühle nicht gefährlich sind und wir diesen Signalen nicht einfach ausgeliefert sind, ist ein wichtiger Teil davon, resilienter durch den Alltag zu gehen und langsam die Scham und die Schuldgefühle abzubauen, die Gefühle bei uns oft auslösen.

Du erfährst in meinem polyvagal-informierten Coaching mehr darüber, wie du deine Gefühle einordnen kannst. Auch in meinen Signature Workshops ist das ein wichtiges Thema, zum Beispiel im ersten Teil «Coming Home».

Literatur zum Post: Der Kreis der Sicherheit, Die klinische Nutzung der Bindungstheorie (Powell, Cooper, Hoffman, Marvin), Our Polyvagal World (Porges & Porges)

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