Sensitiv ist gar keine so kleine Schublade

Sensitivität kommt in vielen Arten, Formen und Ausprägungen:

Ein «Ich» bildet sich am «Du» – ein Satz meines Mentoren, der mich schon seit vielen Jahren begleitet. Auch bei Menschen, die sich fragen, ob sie sensitiver, sensibler, ja sogar hochsensibel sein könnten, beginnt das «sich fragen, ob» oft in der Interaktion mit dem sozialen Umfeld: Bin ich anders? Nehme ich mehr wahr? Oder das berühmte: «Du bist aber sensibel!»

«Bist du empfindlich!»

Immer wieder damit konfrontiert, offenbar irgendwie anders zu ticken, stellen einige von uns fest: Meine Gefühle sind intensiver, ich bin verletzlicher, nehme mir Sachen mehr zu Herzen und ich überreize schneller. Ich reflektiere aber auch tiefer und kann mich wahnsinnig stark verlieben oder freuen. Die Wahrnehmung der Welt ist insgesamt deutlich intensiver, als meine Mitmenschen es beschreiben. Das betrifft nicht nur das Erleben der Welt um sich herum, sondern sogar den Körper, der bei vielen sensitiven Menschen stärker und schneller auf Reize reagiert.
Aber nicht nur die Intensität differenziert uns scheinbar von anderen Menschen: Die Gefühle hallen auch länger nach. Sensitive Menschen sind oft die Kinder, die immer noch traurig sind, weil sie eine Schnecke mit ihrem Haus zertreten haben, während ihre Freund*innen schon lange wieder unbeschwert spielen.

Sensitiv = stark reaktiv

Die mittlerweile bekannte Umschreibung einer erhöhten Sensitivität kommt oft mit der Erklärung, sensible Menschen hätten weniger Filter, würden feinere Reize wahrnehmen. Ich definiere für mich sensitiv mittlerweile als «reaktiv»; und diese Reaktivität kommt in tausenden unterschiedlichen Ausprägungen daher. Und der Umgang damit hat viel mit der eigenen Kindheit zu tun. (Ich klammere hier übrigens bewusst die Theorie aus, dass eine hohe Sensitivität oder eine Hypersensitivität die Folgen von Traumata sind. Mir geht es nicht um die Ursache, sondern um das Erleben.) Dann gibt es da noch diverse Gene und Genvariationen, die eine sensitivere Wahrnehmung begünstigen sollen. Ich selbst bin Trägerin eines so genannten Polymorphismus, einer genetischen Variation. Sie führt dazu, dass mein Körper Neurotransmitter wie Adrenalin weniger schnell abbauen kann, wie andere Menschen. Einfach ausgedrückt ist meine Sinneswahrnehmung dadurch gesteigert; ich bin hoch sensitiv, hoch reaktiv und denke unfassbar schnell. Was auch sehr anstrengend sein kann, weil ich eben schneller überreize.

Nicht Jede*r braucht eine Schublade

In den Jahren meiner Arbeit am Thema Hochsensitivität habe ich immer wieder Personen getroffen, die zwar viele meiner Beschreibungen kennen, sich aber nicht mit einem Begriff wie «hochsensibel» identifizieren wollen. Ich vermute, Menschen, die in einer sicheren, wertschätzenden Umgebung aufwachsen, in der sie sich ausprobieren und zurückziehen können, erleben ihre intensivere Wahrnehmung seltener als Last und beschäftigen sich auch seltener damit, ob es einen Namen dafür gibt.
Menschen hingegen, die früh damit in Kontakt kommen, dass ihre Wahrnehmungsfähigkeit innerhalb des eigenen Umfelds als schwierige Eigenschaft wahrgenommen wird, machen sich schneller und früher auf die Suche nach einer Erklärung.

Facettenreich

Ich habe etwa mit 16 Jahren das erste Mal einen Artikel über Hochsensibilität ausgeschnitten und fand, dass das vieles erklären würde, weshalb ich mich also die letzten 18 Jahre auf die Suche nach Wissen über dieses ominöse intensive Wahrnehmen gemacht habe.
Mittlerweile, viele Jahre später, habe ich so viele Erklärungen und Konzepte über eine Sensitivität gelesen, dass ich nur eines mit Sicherheit sagen kann:
Sehr viele Menschen mit verschiedensten Lebensläufen können sich mit der einen oder anderen Facette von Hochsensitivität identifizieren; nur empfinden viele Menschen diese intensive Wahrnehmung nicht als Belastung oder Andersartigkeit, weshalb sie keine Schublade brauchen.

Für Menschen hingegen, die sich und ihre Wahrnehmung jahrelang verteidigen mussten, bringt der Begriff «hochsensibel» eine Erlösung mit sich; eine Last fällt von ihren Schultern.
Ich bin froh, dass viele Expert*innen daran forschen, woher die unterschiedlichen Ausprägungen der Sensitivität kommen. Das «woher» ist für mich aber mittlerweile sekundär. Die Menschen, mit denen ich arbeite, suchen vor allem danach, wie sie ihre sensitive Ausprägung in ihren Alltag integrieren und sich zugehörig fühlen können.
Und so sehr ich weiss, wie befreiend eine «Erklärung» sein kann, so wenig glaube ich, dass es wirklich darauf ankommt, ob jemand hochsensibel, hochsensitiv oder eben highly whatever ist. Was zählt ist der Umgang damit.
Menschen, die besonders gross sind oder besonders klein lernen auch, sich überlange Hosen oder eine Nähmaschine zum Kürzen zu besorgen; sie suchen sich Mittel und Wege, um mit ihren Voraussetzungen zurecht zu kommen.
Das ist es, was wir mit unserer Wahrnehmungsintensität tun dürfen: Sie integrieren und Tipps, Tools und Tricks finden, um das Beste aus dieser Eigenschaft herauszuholen.


P.S. Und wisst ihr, was Sensitivität vor allem nicht ist: Eine Ausrede. «Ich bin halt sensibel» ist eine Entschuldigung gegenüber der Umwelt, warum man ist, wie man ist. Sie stellt das eigene Sein aber auch in ein negatives, vulnerables Licht. Das brauchen wir doch gar nicht, oder? 🧡

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