Warum wir Wellenreiten trainieren sollten:

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Ob Bewegung, unsere Atmung oder ein Orgasmus – unser Dasein basiert auf einem perfekten Spiel aus Anziehen und Loslassen, Anspannen und Entspannen, Auf und Ab. So haben sind wir einst den Säbelzahntiger überlebt und schaffen es heute, gezielte Höchstleistungen zu erbringen. Dabei ist das ausbalancierte Spiel aus Anspannung und Loslassen besonders wichtig. Beim Einatmen beschleunigt sich zum Beispiel der Herzschlag, während er sich beim Ausatmen wieder verlangsamt. Mit dem Anziehen und Loslassen verknüpft sind viele kleine Zahnrädchen, die sich auf unsere Organe, unsere Muskeln und Hormone auswirken. Wir leben in also in einem konstanten Spiel von Wellen, die gleichmässig vor sich her fliessen; ein gesundes Auf und Ab.

Unser autonomes Nervensystem sorgt für gesunde Wellenbewegungen

Massgeblich für diese Wellenbewegungen in unserem Körper verantwortlich, ist das autonome Nervensystem. In Gefahrensituationen mobilisiert es unseren Körper, damit wir schnellstmöglich angreifen oder flüchten können. Ist beides nicht möglich und die Gefahr bleibt bestehen, sorgt es dafür, dass wir ausharren, uns quasi totstellen, und in einen Energiesparmodus wechseln, um zu überleben.

Beide Zustände sind dafür gedacht, temporär zu sein. Wenn das Spiel aus Anspannung und Loslassen nicht gestört wird, finden wir wieder zurück in einen entspannten Zustand und die Balance ist wieder hergestellt. Schwierig wird es, wenn wir in einen Sturm geraten, bei dem sich die Wellen nur noch überschlagen.

Angst vor Ausgrenzung statt Säbelzahntiger

Als es noch Säbelzahntiger gab, war es einfach, die Gefahr zu erkennen: Unser autonomes Nervensystem hat reagiert und wir haben die Beine in die Hand genommen oder angegriffen. Für das komplexe System, das unser Körper nun mal ist, bedeutet eine Gefahr: Stress. Stress ist nichts anderes als ein Zustand der Anspannung. Unser System sagt: «Gefahr, Gefahr, Los!» Heutzutage sind die Gefahren weniger plakativ, wie der Säbelzahntiger. Sie kommen in Form von Deadlines, Konflikten und der Leistungsgesellschaft.

Ausserdem haben wir uns vom einsamen Säbelzahn-Jäger weiterentwickelt: Sicherheit bedeutet heutzutage für uns nicht nur, dass kein Tiger um die Ecke kommt und wir irgendwo in Ruhe auf einem Baum schlafen können, sondern auch, dass wir sichere soziale Verbindungen spüren. Wir brauchen Menschen, eine Gemeinschaft, Verbundenheit, Tribes und Partnerschaften.

Gefahr bedeutet mittlerweile also auch, wenn wir spüren, dass wir nicht in Verbindung treten können. Für ein Baby, dessen Existenz zuerst von seiner Mutter abhängt, bedeutet es Lebensgefahr, wenn es keine Verbindung mit der Mutter spüren kann (weil sie zum Beispiel selbst in einer anhaltenden Stressreaktion steckt, die eine biologische Verbindung schwierig macht).

Obwohl wir also nicht mehr vor Tiger flüchten müssen, sind wir tagtäglich mit vielen Gefahren konfrontiert: Der Angst, nicht zu genügen und nicht geliebt zu werden, der Furcht, nicht dazuzugehören und einer anhaltenden Stressreaktion, weil wir unfaire Chef:innen aus Reflex angreifen wollen, aber sich das nicht mehr gehört.

Unbeendete Stressreaktionen

Wir sind also nicht nur mit vielen Gefahren konfrontiert, wir können die biologisch seit Millionen von Jahren gelernten Abläufe nicht mehr ausleben, weil wir oft weder weglaufen noch angreifen können. Wenn wir diese Stressreaktion zu lange unterbinden und sich daran, dass unser System eine Gefahr meldet, nichts ändert, folgt der Shutdown als letzte Reaktion des autonomen Nervensystems: Wir fahren alle Prozesse herunter, sind müde, ausgelaugt und spüren kaum mehr etwas. Das ist die letzte Schutzmassnahme, die unser System zur Verfügung hat.

Es ist normal, dass wir jeden Tag zwischen den Zuständen Verbundenheit, Gefahr und Lebensgefahr pendeln. Ein gut funktionierendes System, bei dem alle Zahnrädchen sauber ineinandergreifen, durchlebt ein gesundes Auf und Ab von Wellen. Nicht normal ist, dass wir in einer Stressreaktion stecken bleiben und uns nicht mehr einpendeln können: Wir schaffen es nicht mehr, uns so zu regulieren, wie unsere Biologie das vorsehen würde. Als Folge davon gerät ein System mit tausenden Zahnrädchen immer mehr aus der Balance.

Unser System sucht händeringend nach Schutz

Eigentlich ist uns allen schon länger bewusst, dass anhaltender Stress ungesund ist. Wofür wir erst langsam mehr Bewusstsein entwickeln, ist, dass Stress eine Reaktion auf Gefahr und schliesslich Lebensgefahr ist und unser System händeringend nach Sicherheit sucht.

Bei dieser Suche können wir es unterstützen, indem wir das Wellenreiten trainieren und unserem System helfen, wieder zurück in den Zustand von Sicherheit und Verbundenheit zu finden. Ziel ist nicht, dass es für immer dort bleibt, denn es ist durchaus hilfreich, wenn in gewissen Momenten Energie mobilisiert und eine temporäre Anspannung ermöglicht wird; aber wichtig ist, dass die Wellenbewegungen gleichmässig voranschreiten.

Dabei hilft als aller erster Schritt, dass wir Anspannung als autonome Schutzmassnahme auf eine Gefahr verstehen können, die unbewusst abläuft. Wir können uns aber bewusst machen, ob gerade eine aktuelle, echte Gefahr vorliegt und unser System mit gezielten Übungen dabei unterstützen, zu entspannen. Wir können uns zum Beispiel vergewissern, dass wir nicht in Gefahr sind, langsam ein- und ganz lange ausatmen. Und uns dabei sagen: «Ich bin sicher. Ich bin sicher. Ich bin sicher.»

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