Worum geht es WIRKLICH?

Kennst du Menschen, die ständig schimpfen? Oder bist du selbst gerade in einer Situation, in der du überall nur mühsame Menschen siehst und einfach ständig ausrasten könntest? Ich sage es nur ungern, aber es liegt nicht an den Menschen um dich herum oder an den Situationen, in denen du dich gerade befindest (auch wenn diese schwierig sein können). Ständig auf «180» zu sein ist oft ein Zeichen von tiefer Unsicherheit. Und wenn du dich über diese Aussage gerade ziemlich nervst, erkläre ich dir gern, warum ich dieser Meinung bin:

Wir bekommen eine E-Mail, die uns innerhalb von wenigen Sekunden auf «180» treibt und dafür sorgt, dass wir schimpfend vor dem Computer sitzen und uns stundenlang aufregen. Oder wir haben ein Treffen mit diesem einem Familienmitglied, das uns jedes Mal zur Weissglut treibt. Ich habe oft Klient:innen im heart space, die sich richtig aufregen. Sie schimpfen, toben und finden tausend Gründe, warum diese eine Person einfach alles falsch macht oder diese eine E-Mail eine bodenlose Frechheit war. Und bei mir darf man ziemlich lange schimpfen. Aber irgendwann frage ich ganz platt und hartnäckig: «Worum geht es denn hier WIRKLICH?»

Gesunde Mobilisierung

Und in 9 von 10 Fällen landen wir irgendwann bei einer Angst, die hinter dem Schimpfen, sich Aufregen, genervt Sein steckt. Denn, wenn wir sekundenschnell aufdrehen, hat unser autonomes Nervensystem eine vermeintliche Gefahr erkannt und uns zum Angriff mobilisiert. Unser Körper fühlt sich angespannt, wir haben ein unangenehmes Kribbeln im Bauch und kommen kaum zur Ruhe. Und wir können kaum aufhören, unserer Wut lautstark Luft zu machen.

Dieser Mechanismus ist ein sehr archaischer Vorgang, schliesslich hätten wir keinen Angriff eines Säbelzahntigers überlebt, wenn wir erst hätten überlegen müssen, ob wir davonrennen oder angreifen sollen. Unser autonomes Nervensystem hat für uns die Aufgabe übernommen, unbewusst alle Vorgänge parat zu machen, damit wir überleben. Dazu gehört auch ein schnelles Mobilisieren von Energie. Heutzutage begegnen uns keine Säbelzahntiger mehr. Aber zum Beispiel eine E-Mail, die irgendwie impliziert, dass wir einen Fehler gemacht haben. Oder ein Mensch, der immer wieder unsere Grenzen übertritt. Je nachdem, was für Erfahrungen unser autonomes Nervensystem gemacht hat, ist das eine echte Gefahr; weil eine Angst, eine Unsicherheit oder Selbstzweifel berührt werden.

In meiner Arbeit mit Menschen mache ich beinahe jeden Tag die Erfahrung, dass sich Jemand fürchterlich aufregt, lautstark schimpft oder am liebsten einfach nur davonrennen möchte. Manchmal sind es keine E-Mails oder Menschen, manchmal ist es das System, die Gesellschaft, über die sich Jemand übermässig stark aufregt. Und im Kern all dieser mobilisierten Reaktionen können wir etwas finden, was diese Person verunsichert. Das können Selbstzweifel, Ängste oder fehlendes Selbstvertrauen sein. Aber auch eine anhaltend unsichere Lebenssituation oder Ohnmacht einer Situation gegenüber.

Un-Sicherheit ist ein Grund für einen Angriff

Un-Sicherheit bedeutet für unser autonomes Nervensystem in der polyvagalen Betrachtungsweise, dass es reagieren muss. Denn es ist vor allem dazu da, uns in Sicherheit zu wissen und unser Überleben zu sichern.

Wenn wir uns also ständig aufregen und uns kaum mehr beruhigen können, ist es sicher ratsam, die Lebensumstände genauer zu betrachten. Aber vor allem sollten wir damit beginnen, uns unsere Unsicherheit einzugestehen und unserem System wieder Sicherheit zu vermitteln: Ok, ich fühle mich unsicher.

Wenn wir unsere Wut, unsere Mobilisierung als Schutzmechanismus verstehen können, der uns gerade zum Angriff bringen will, können wir diese Mobilisierung auch wieder runterfahren. Denn, was auch die meisten schon wissen: Es ist besser, schwierige Situationen in gelassenem Zustand zu lösen, als in Rage auf E-Mail zu antworten oder auf einen anderen Menschen in der Wut loszugehen. Es ist auch einfacher, in einem selbst-sicheren Zustand schwierige Lebensumstände zu regeln, auf Familienmitglieder zuzugehen oder Entscheidungen zu treffen.

Wenn wir uns reguliert haben, sehen wir wieder klar und können emphatisch handeln und selbst bestimmte Entscheidungen treffen. Das ist übrigens auch der Grund, warum viele Menschen nach einem stressigen Tag Sport treiben: So wird die mobilisierte Energie gesund abgebaut. Das geht aber auch schon während des Tages mit einigen einfachen Selbstregulationsübungen, die wir im Mentoring lernen und anwenden.

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